Ziele (Berlin-Halbmarathon, Teil 2)
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am 10.04.2013 um 21:04 (5745 Hits)
Um 9 treffe ich Ulrich und Irene.
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Die Sonne knallt, aber es ist immer noch saukalt, die Plastiksäcke sind so wärmend wie sie schön sind, daher fliegt das Ding schnell weg. Irene und Ulrich laufen derartige Veranstaltungen seit vielen Jahren, neidisch bemerke ich ihren Fundus an Mützen, Stirnbändern, Opferjacken, Windjacken und Thermozeugs. Amüsiert-mitleidig mustern sie meine mitgebrachten Energiegel-Tütchen, die mich während des Wegs stärken sollen. Irgendwann seh ichs ein und werfe meinen gelben Müllsack weg. Der QDDS-Effekt tritte in und alle umstehenden machens nach. 500 Säcke fliegen in die Botanik, die geschulten Helfer nehmens gelassen und verrichten ihren Dienst ruhig und routiniert.
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Das Starterfeld füllt sich. Wir, die 30.000 Teilnehmer sind eingepfecht zwischen Gittern. Dahinter abertausende Zuschauer. Die Stimmung ist sensationell. Tausende Berliner, alle völlig ausgehungert nach Sonne und deswegen ausnahmslos auf den Beinen, um sich zu wärmen und die Vitamin-D Speicher aufzufüllen. Tausende Läufer, die alle nur los wollsn. aber noch ist es 9:30. Wir werden bespaßt von Radiomoderatoren, deren Programm live aus den Lautsprechern hallt. Teils witzig, teils informativ. Man hofft auf einen neuen Streckenrekord, Zeiten unter 1 Stunde werden erwartet, Kenianer und Äthiopier ganz vorn, ein paar Deutsche irgendwo um Platz 10, Lokale Größen, Promis - all das halt. Man hört hin, läßt scih aber nicht ablenken von der inneren Spannung, die wächst und wächst.
Exkurs: Wie läuft so ein Halbmarathon für einen Anfänger wie mich ab? Es gibt ja einiges Neuland. 20 km zu laufen ist kein Problem. Im training ist man allein, kann mal langsamer und mal schneller machtn, macht mal ein Päuschen oder eben auch nicht und wenn man keinen Bock mehr hat, kann man theoretisch aufhören. Keine anderen Läufer, keine Fans, keine Musik. Kein Gedränge, kein Blutdruck, kein Startschuß. Und all das ist es, was mich nervös macht. Wie werd ich auf die Crowd reagieren? Werd ich mich so mitreißen lassen, daß ich nach 3 Kilometern völlig platt bin? Werd ich meinen Rhythmus finden? Bin ich dann vielleicht zu langsam? Wie komm ich klar mit der Strecke? Sicher, Berlin ist schön flach, aber es stehen über 200.000 Menschen am Straßenrand. Wie ist das? Motiviert das? Nervt das? Belastet das? Wir werden sehen.
Meine persönliche Zielsetzung: durchkommen, und zwar laufend. Nicht gehend. Schnell bin ich nicht, dafür bin ich zu alt und zu schwer. Einen 7er-Schnitt strebe ich an, ein 6er-Schnitt war 2 Wochen vorher drin im Training bei 15 km Distanz. Schaff ich das? Will ich das?
Ich entscheide mich anders: und zwar nach dem Blick auf die Karte. Berlin ist sehenswert, das Wetter traumhaft und die Strecke führt an allen touristisch wesentlichen wesentlichen Punkten der Stadt vorbei. Es geht los am Alexanderplatz, durchs Brandenburger Tor und an der Siegessäule vorbei, man passiert das Charlottenburger Schloß und die Kastanie, dann gehts auf den Kurfürstendamm. Man passiert Checkpoint Charly und die Friedrichstr. und kommt nach 21 km wieder am Ziel an. Man kennt all diese Punkte. Aber an normalen Tagen ist man eben nur Tourist. Man sitzt in einem Auto oder einem Bus, man läuft oder fährt mit dem Fahrrad dran vorbei, aber immer ist man nur Tourist. Hier, beim Halbmarathon, ist man der Mann, um den sich alles dreht. Alles für uns abgesperrt, alles für uns gesäubert und beschildert, tausende Helfer stehen da und sorgen dafür, daß wir nicht über Bordsteine stolpern, was zu trinken bekommen und Spaß haben. das muß man nutzen. Ich weiß ja eh, daß mein Ergebnis keine Sau interessiert. Ob ich jetzt 12.000er oder 15.000er werde, scheißegal. Ich genieß das Ding jetzt mal.
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Wir stehen in Startblock E, das ist quasi der Versehrtenblock. Ganz vorn starten die Profis, von denen Spitzenzeiten erwartet werden. Dann kommen die Laufsportvereine und die wirklich guten Läufer, dann die ambitionierten Hobbyläufer und schließlich - in Block E - die Versehrten, adipösen, fetten, siechen und alten. Und wir. Aber hey, die Stimmung ist super. Die Musik wird snappier, kurz vor de mStart läuft irgendein sehr eingängliches Techno-Stück, welches mich ziemlich elektrisiert (es lief an dem Morgen ein paar mal, kann mir jemand sagen, welches das ist?). Gleich gehts los. Erst starten die Skater, dann die Rollstuhl- und Handbikefahrer, dann, um 10:05, die Läufer. Aber es dauert natürlich, bis auch wir die Startlinie passieren. Immerhin sind wir 30.000 Leute, die alle über dieselbe Linie müssen. Gestartet wird in 3 Wellen. Bis unsere, die dritte, startet, ist Welle 1 schon 7 Kilometer gelaufen. Egal.
Wir kommen näher.
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Die Startlinie ist sichtbar, alle trotten in deren Richtung. Aber es ist kein gemütliches Trotten, die Spannung ist tatsächlich fühlbar. Auch wenn wir alle keine Spitzenathleten sind, jeder hier ist gekommen, um Leistung abzuliefern. Jetzt und hier sind alle hellwach, gespannt, motiviert und bereit. Und dann - nach quälend langen metern und quälend zähen Minuten - ist die Startlinie überschritten und der Pulk donnert los. Whoa!! Halbmarathon!!
Die Strecke ist geil! Die Leute sind geil! Das Wetter ist geil! Hier ist grad alles geil!! Fußschmerzen? Vergessen. Der Magen-Darminfekt der letzten Tage? Vergessen. Die zu kalten Klamotten? Perfekt. Alles paßt, alles sitzt. Um mich rum trappelt und atmet es. Leute gehen ab, gehen vor, überholen, geben Gas. Hier muß ich mich ein wenig bremsen. Rhythmus finden. Nach den ersten 500 adrenalinlastigen Metern - die sich anfühlen wie der Moment, wenn sich die Achterbahn das erste mal hinabstürzt - vorbei an jubelnden Fans, finde ich in meinen Rhythmus. Rufe mir meine Weinbergrunde vors geistige Auge. Ruhe und Rhythmus. 3 Schritte - einatmen, 3 Schritte - ausatmen. Immer wieder, immer wieder. Augen nach vorn, Körper gerade, Körperspannung aufbauen. Vorderfuß. Atmen, Rhythmus. Easy.
Es läuft, der Lauf liegt mir. Die ersten atemberaubenden Anblicke bieten sich mir.
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Schon x-mal gesehen, schon x-mal passiert, aber wenn sich das Ding dann auf einmal vor einem aufbaut, größer wird und man langsam, aber sicher näher kommt, entwickelt man eine ganz andere Bindung dazu. Wie überhaupt zu allem. Die Straße, die Leute, die Wegführung - es ist so viel da, was wahrgenommen werden will. Ich bin ziemlich überwältigt. Und auch ziemlich beflügelt.
http://www.youtube.com/watch?v=T0fYx78Goeg
Es geht durchs Brandenburger Tor. Auch das schon hunderte Male gesehen. Aber ich bin noch nie durchgelaufen. Und noch nie wurde alles um mich herum abgesperrt, sodaß ich es ungestört durchlaufen kann.
Die Straße des 17.Juni, sonst ehrfurchteinflößende Hauptverkehrsader mit gefühlten 300 Spuren ist plötzlich meine Laufstrecke. Es geht auf die Siegessäule zu. Whoa!!
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Wir sind bei Kilometer 6, Zeit für die erste Wasserstation. Ich zieh mir eines meiner leckeren Gelpacks rein - Schwarze Johannisbeere, yummi - und hol mir einen Becher Wasser. Das Zeug versetzt mir einen guten Kick, weiter gehts in Richtung Charlottenburger Schloss.
Hier kenn ich mich ein wenig aus, die Laufstrecke vom Schloß zur Siegessäule hab ich schon ein paar mal während früherer Besuche zurückgelegt. Aber das war anders. Damals war ich nur ein einzelner, verlorener Läufer zwischen Autos, Verkehrslärm und Passanten. Heute gehört uns das alles hier, Polizisten halten die Autos auf, Ordner weisen uns den Weg. Das ist schon alles sehr sehr großes Kino. Und über allem die strahlende Sonne.
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Es geht vorbei an der Kastanie, einem wunderschönen charlottenburger Biergarten, an dem ich Nico und Rosa vermute. Wären sie da, hätt ich mich rasch auf ein alkfreies Weizen dazugesetzt. Sind sie aber nicht, also weiter. Es geht auf km 10 zu, der zweiten Wasserstation. Nechstes Gelpack mit grünem Apfelgeschmack rein, Becher Wasser dazu. Paßt.
Dem Zufall hab ich übrigens wenig überlassen. Auf diese Gels hab ich trainiert - weiß ich doch um den verheerenden Effekt, den derartige Nahrung auf untrainierte Mägen haben kann. Aber mein Trainer hat mir auch hier wertvolle Lektionen erteilt, sodaß ich auf das Zeug gut klarkomme. Ob es hilft? Glaub schon, jedenfalls fühl ich mich gut.