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Über die Gangunterschiede in den vertikalen Lagen
Liebe Foristi,
ich habe neulich meine alte 1530 Date komplett zerlegt, gereinigt und wieder montiert und am Ende dieses Prozesses stand natürlich das Thema Reglage auf der Tagesordnung. Dabei stellte sich heraus, dass die Uhr in den vertikalen Lagen zu große Gangunterschiede aufwies. Das möchte ich zum Anlass nehmen, dieses Thema hier mal näher zu beleuchten. Leider etwas kompliziert, aber vielleicht mag mir ja der ein oder andere ein Stück weit in die Welt der theoretischen Grundlagen folgen (die ich hier wie immer vereinfacht darstellen werde, präzise Abhandlungen zu diesem Thema füllen nicht umsonst sehr dicke Bücher).
Anhang 220370
Fangen wir ganz praxisnah mit dem Durchmessen meiner Date an. Zuerst kommen die horizontalen Lagen, also Zifferblatt oben und Zifferblatt unten, dran. In diesen Lagen ruht das Gewicht der Unruh quasi nur auf dem abgerundeten Ende des jeweiligen Unruhwellenzapfens im unteren Lager.
Anhang 220371
Anhang 220372
Ich habe folgende Werte gemessen:
Zifferblatt oben: Amplitude 302°, Gang: -11 s/d
Zifferblatt unten: Amplitude 303°, Gang: -11 s/d
Dass die Werte praktisch identisch sind, ist kein Zufall. Wenn die Zapfen okay sind, die Lager sauber und korrekt geölt und nirgends etwas schleift, müssen Amplitude und Gang in den beiden horizontalen Lagen gleich sein (wobei natürlich 1-2 Sekunden oder ein paar Grad Amplitudenabweichung toleranzbedingt immer drin sind). Wenn allerdings die Amplitude bei Zifferblatt oben 300° beträgt, bei Zifferblatt unten aber nur 270°, dann sollte man auf Fehlersuche gehen.
Nun zu den vertikalen Lagen. In diesen Lagen liegen beide Unruhzapfen mit einer gewissen Länge in den Lagern. Bei dieser Konstellation ist die Reibung also deutlich größer als in den horizontalen Lagen. Das macht sich in der Amplitude bemerkbar, in den vertikalen Lagen beträgt diese bei meiner Date nur ca. 265°.
Anhang 220373
Anhang 220374
Der Gang ist aber immer unterschiedlich, je nachdem, wie die Uhr ausgerichtet ist. Ich habe die Werte mal in folgendem Diagramm dargestellt (um ein genaueres Bild zu bekommen, habe ich nicht nur die üblichen Lagen Krone oben/unten/links/rechts betrachtet, sondern auch noch die diagonalen Zwischenlagen). Die Lagen sind hier (unüblicherweise) von der Werkseite aus gesehen, ich komme sonst immer durcheinander, hab so meine Probleme mit links und dem anderen links.
Anhang 220375
Wie man sieht, besteht da schon eine deutliche Spanne von 13 Sekunden zwischen den Lagen „Krone links oben“ und „Krone rechts unten“. Wenn man jetzt in die Serviceunterlagen von Rolex schaut, findet man folgende Darstellung (die Hintergründe dazu hatte ich in diesem Thread mal erläutert: http://www.r-l-x.de/forum/showthread...035-Reglage)):
Anhang 220376
Wenn ich also zwei gegenüberliegende Microstella-Schräubchen so verdrehe, dass sie auf die Mittelachse zuwandern, dann wird die Uhr schneller. Blöderweise wird sie in allen Lagen um den gleichen Betrag schneller. Ich könnte sie also z.B. um 11 Sekunden schneller machen, dann würde sie in den Lagen Zifferblatt oben und Zifferblatt unten mit perfektem Gang von 0 Sekunden Abweichung/Tag laufen. Aber alle Werte im Diagramm für die vertikalen Lagen würden sich auch um +11 Sekunden ändern, an der Spanne zwischen den Lagen würde sich nichts tun.
Um die Werte in den vertikalen Lagen näher zusammenzubringen, müssen wir erstmal die Ursache für die unterschiedlichen Werte verstehen. Warum sind die eigentlich nicht alle gleich? Der Grund liegt in einer Unwucht der Unruh im Zusammenspiel mit der Schwerkraft, das haben Uhrmacher schon vor über 100 Jahren erkannt. Mit „Unruh“ ist in diesem Zusammenhang der komplette Zusammenbau gemeint, also nicht nur der Unruhreif, sondern auch die Welle, der Impulsstein, die Spiralfeder, etc.
Anhang 220377
Wenn alle diese Teile perfekt konstruiert und gefertigt wären, dann läge der Schwerpunkt dieser Baugruppe genau auf der Drehachse, es wäre keinerlei Unwucht vorhanden und der Gang der Uhr wäre in allen vertikalen Lagen identisch (die Spiralfeder nimmt hier natürlich eine besondere Rolle ein, sie muss idealerweise so gestaltet sein, dass ihr Schwerpunkt in allen möglichen Auslenkungen trotzdem immer genau auf der Drehachse liegt – eine Wissenschaft für sich, die nicht nur dicke Bücher sondern eher Bibliotheken füllt).
Nun besteht eine Uhr leider aus realen Bauteilen und die sind toleranzbehaftet. Der tatsächliche Schwerpunkt der Unruh liegt also immer leicht neben der Drehachse. Je kleiner dieser Versatz ist, desto geringer sind auch die Gangunterschiede in den vertikalen Lagen. Der Schwerpunktversatz aufgrund von Toleranzen ist in allen folgenden Skizzen übertrieben groß dargestellt, in der Realität reden wir hier über tausendstel Millimeter.
Anhang 220378
So, das war bis jetzt ja nur eine Darstellung auf „Weil, das isso“-Niveau. Ich möchte nun versuchen, die Auswirkungen eines Schwerpunktversatzes im Detail darzustellen. Beginnen wir mit der Betrachtung einer horizontalen Lage und nehmen an, es handelt sich um eine perfekte Unruh ohne jegliche Unwucht. Diese wird durch den Anker angeregt und schwingt nun mit dem perfekten Gang von 0 Sekunden Abweichung/Tag vor sich hin.
Anhang 220379
Stellen wir uns nun folgendes vor: Wir schneiden auf der einen Seite ein Stück aus dem Unruhreif raus und fügen dieses genau auf der gegenüberliegenden Seite wieder hinzu. Dadurch haben wir weder die Gesamtmasse noch das Trägheitsmoment geändert, aber eine Unwucht erzeugt, der Schwerpunkt liegt nun leicht nach rechts versetzt neben der Achse (roter Punkt).
Anhang 220380
Was hat das jetzt für eine Auswirkung auf die Schwingung? Genau, keine! Die Unruh schwingt nach wie vor mit perfektem Gang. Vielleicht hilft es sich vorzustellen, was passieren würde, wenn man die Feder ausbaut. Es würde nämlich nichts passieren. Unsere absichtlich mit einer Unwucht versehene Unruh bleibt einfach in Ruhe stehen. Die Gewichtskraft erzeugt lediglich ein minimales Kippmoment, aber es wirkt keine Kraft in Rotationsrichtung, die die Schwingung beeinflussen könnte (ich hoffe, die leicht perspektivische Darstellung verwirrt hier nicht, die Unruh soll exakt horizontal stehen).
Anhang 220381
Jetzt schauen wir uns diese Situation mit ausgebauter Feder in vertikaler Lage an. Und siehe da, hier passiert was! Die Schwerkraft, die auf den außermittigen Schwerpunkt wirkt, versetzt die Unruh zunächst in eine Drehung im Uhrzeigersinn und in der Folge in eine Rotationsschwingung, die an das Pendel einer Standuhr erinnert. Und das ist auch schon der Kern der Gangunterschiede in den vertikalen Lagen: In den vertikalen Lagen wird das Verhalten der Unruh nicht allein durch die Feder-Drehschwingung definiert, sondern es kommt eine durch die Unwucht verursachte „Pendelschwingung“ dazu.
Anhang 220382
Jetzt sieht es so aus als würde es eine Rolle spielen, wo der Schwerpunkt sitzt (also über, unter oder neben der Achse). Schauen wir uns das mal anhand einer mit sehr kleiner Amplitude (90°) schwingenden Unruh in vertikaler Lage an. Zunächst mal die Darstellung einer idealen Unruh ohne Schwerpunktversatz. Rechts ist eine Zeitwaage angedeutet, der horizontale Strich bedeutet, dass die Uhr mit perfektem Gang 0 Sekunden Abweichung/Tag läuft.
Anhang 220383
Jetzt fügen wir wieder unsere Unwucht hinzu, und zwar so, dass sich der Schwerpunkt genau unterhalb der Drehachse befindet. Die Zeitwaage verrät uns: Diese Konstellation bewirkt einen schnelleren Gang, die Uhr geht deutlich vor. Man kann sich das vielleicht so veranschaulichen: Wenn die Unruh am Umkehrpunkt stillsteht, wirken beide Kräfte (die Federrückstellkraft und die Schwerkraft auf den außermittigen Schwerpunkt) in derselben Richtung. Es ist, als hätte man eine stärkere Feder verbaut.
Anhang 220384
Nun die Betrachtung des anderen Extrems: Der Schwerpunkt liegt genau oberhalb der Drehachse und die Wirkung ist umgekehrt, die Uhr geht deutlich langsamer. Auch hier hilft die Betrachtung der Kräfte: Federrückstellkraft und Schwerkraft zeigen in entgegengesetzte Richtungen, es ist, als hätte man eine schwächere Feder verbaut.
Anhang 220385
Befindet sich der Schwerpunkt genau neben der Achse (egal ob links oder rechts), so heben sich die Wirkungen auf und die Uhr geht wieder perfekt genau. Auf die entsprechenden Diagramme verzichte ich hier mal.
Jetzt sind wir ja schon mal sehr weit gekommen und haben folgendes herausgefunden:
- eine Unwucht der Unruh hat keine Auswirkung auf den Gang in den horizontalen Lagen
- eine Unwucht der Unruh ist die Ursache für unterschiedlichen Gang in den vertikalen Lagen
- dabei gilt für kleine Amplituden (ca. 90°): Liegt der Schwerpunkt unterhalb der Drehachse, so macht er die Uhr schneller; liegt er oberhalb der Drehachse, so macht er die Uhr langsamer
Damit sind wir leider noch nicht fertig. Unsere Uhren laufen ja meistens bei deutlich höheren Amplituden als 90°. Gelten denn unsere Ergebnisse auch für eine Amplitude von z.B. 265°, wie bei meiner Date? Einfache Antwort: Nein, tun sie nicht.
Es gibt einen Zusammenhang zwischen unwuchtbedingtem Vorgang/Nachgang und der Amplitude. Damit das hier umfangsmäßig nicht völlig aus dem Ruder läuft, möchte ich diesen Zusammenhang nur an dem Beispiel darstellen, bei dem der Schwerpunkt genau unter der Achse liegt. Dazu komme ich nochmal auf das entsprechende Diagramm zurück: Schwerpunkt unterhalb der Drehachse, Amplitude 90° ergibt starken Vorgang.
Anhang 220386
Jetzt ziehen wir unsere Uhr soweit auf, dass die Amplitude auf fast 180° steigt. Dann zeigt sich folgendes Bild.
Anhang 220387
Bei dieser Konstellation führt die Unwucht immer noch zu einem Vorgang, dieser ist aber nicht mehr so stark, wie bei 90° Amplitude. Wir ziehen die Uhr noch weiter auf, bis die Amplitude 220° erreicht.
Anhang 220388
Nein, das ist keine optische Täuschung. Bei 220° Amplitude schwingt die Unruh bereits ein gutes Stück über den oberen Totpunkt hinaus. Dies führt dazu, dass sich die beschleunigenden und bremsenden Effekte gerade gegenseitig aufheben. Obwohl sich die Uhr in einer vertikalen Lage befindet und einen Unwuchtfehler hat, zeigt sie bei dieser Amplitude keinen Vorgang/Nachgang! Jetzt gehen wir noch den letzten Schritt und ziehen die Uhr voll auf, so dass sie selbst in den vertikalen Lagen 270° Amplitude erreicht.
Anhang 220389
Und siehe da: Die bremsenden Effekte gewinnen die Oberhand, die Uhr zeigt einen leichten Nachgang. Wir können also zusammenfassen: Ein Schwerpunktfehler unterhalb der Drehachse sorgt bei kleiner Amplitude (A<<220°) für einen starken Vorgang, bei ca. 220° Amplitude hat er quasi keine Auswirkung und bei großer Amplitude (A>>220°) bewirkt er einen leichten Nachgang.
Geschafft, das war die Theorie. Jetzt können wir uns endlich wieder meiner konkreten Uhr widmen. Um die Gangunterschiede der vertikalen Lagen zu verringern, müssen wir also den Schwerpunktfehler verringern. Ich schreibe bewusst verringern und nicht eliminieren. Natürlich kann man den Ehrgeiz entwickeln im Lagendiagramm überall eine Null stehen zu haben. Aber das dauert erstens ewig, zweitens gibt es auch noch diverse andere Effekte, die die Ganggenauigkeit einer Uhr beeinflussen (das ist so ähnlich, wie wenn man als Massnahme gegen Zugluft den letzten Zehntelmillimeter-Spalt an einem Mauerriss dichtkittet, während 2 Meter daneben ein Fenster offensteht) und drittens bin ich ein großer Fan von Mark Lovicks Grundregel der Uhrmacherei: „The nearer you get to the balance, the higher ist the risk of fatal damage.“ Die Angleichung der vertikalen Lagen ist ein iterativer Prozess, und je öfter man justiert, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass man irgendwann mal mit dem Werkzeug abrutscht und die Spiralfeder zu Klump haut. Ich setze mir einfach mal eine maximale Abweichung zwischen den Lagen von 8 Sekunden zum Ziel.
Um den Schwerpunktfehler der Date zu verringern, muss ich natürlich erstmal wissen, wo der überhaupt liegt. Unsere theoretische Betrachtung hat gezeigt, dass dieser bei kleinen Amplituden besonders deutlich zu Tage tritt und dass sich der Schwerpunkt genau in der Lage unterhalb der Drehachse befindet, wenn die Uhr am schnellsten läuft. Also habe ich noch ein Lagendiagramm bei kleiner Amplitude erstellt. Die absoluten Werte haben keine Praxisrelevanz, das Diagramm dient ausschließlich zur Lokalisierung des Schwerpunktfehlers.
Anhang 220390
Da ich mir unsicher war, habe ich noch einen zusätzlichen Messpunkt aufgenommen, um den Schwerpunktfehler möglichst gut zu lokalisieren. Und tatsächlich: Die Uhr läuft in der Lage zwischen „Krone links oben“ und „Krone oben“ mit +15 s/d am schnellsten. Das heißt, in dieser Lage liegt der Schwerpunkt genau unter der Drehachse, also hier (roter Punkt):
Anhang 220391
Um den Schwerpunkt jetzt dahin zu verschieben, wo er hingehört, nämlich genau auf die Achse, habe ich 2 Möglichkeiten: Entweder, ich drehe die Microstellaschraube 1 ein Stück Richtung mitte rein oder ich drehe die Microstellaschraube 2 ein Stück von der Mitte weg raus.
Anhang 220392
Beide Aktionen würden den Schwerpunkt in der gewünschten Richtung verschieben. Aber wenn ich Schraube 2 rausdrehe, bewege ich Masse nach außen und mache damit die Uhr gesamthaft langsamer. Nicht gut, die läuft ja eh schon zu langsam. Der richtige Weg ist also, Schraube 1 reinzudrehen, damit schlage ich 2 Fliegen mit 1 Klappe: Der Schwerpunktfehler verringert sich und die Uhr wird gesamthaft schneller. Hier nun das Lagendiagramm, nachdem ich nachjustiert habe.
Anhang 220393
Nicht schlecht. Die maximale Differenz zwischen den Lagen liegt bei nur noch 8 Sekunden, das war ja mein Ziel. Aber insgesamt läuft die Uhr noch zu stark im Minus, ich bevorzuge einen leichten Vorgang. Also nochmal nachjustieren.
Anhang 220394
Anhang 220395
Damit soll’s dann auch gut sein, maximale Abweichung zwischen den Lagen 7 Sekunden. Hier nochmal die Darstellung der Hauptlagen und zwar diesmal wie üblich von der Zifferblattseite aus gesehen.
Anhang 220396
Für mich persönlich sind 3 Lagen am wichtigsten:
Zifferblatt oben -> Nachtablage und Arbeit am Schreibtisch
Krone oben -> Ich trage die Uhr rechts, also ist die Krone oben, wenn der Arm nach unten zeigt.
Krone links -> die „Kaffetrinker“-Lage, und ich trinke viel Kaffee
In meinen Hauptlagen sollte die Uhr also zwischen 0 und +2 s/d laufen. Beste theoretische Voraussetzungen, ich bin gespannt, wie sich die Uhr in der Praxis am Arm verhält.
Ich hoffe es ist deutlich geworden, dass es ein großer Unterschied ist, ob man eine Uhr mal kurz “schneller“ macht, oder ob man tatsächlich die Unterschiede in den vertikalen Lagen angeht. Der Aufwand ist ungleich größer und für beide Tätigkeiten wird oft dasselbe Wort, nämlich „regulieren“, verwendet. Wenn also demnächst mal wieder jemand im Forum postet, dass sein Uhrmacher die Uhr mal schnell mit nach hinten genommen und binnen 10 Minuten reguliert hat, dann wird der kaum die vertikalen Lagen angeglichen haben. Oder er war schnell. Verdammt schnell.
Danke fürs Reinschauen.
Gruß
Erik